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Zwischen Eremitenland und Stadtflucht

  • Kreativ: Das Kollektiv Tersnaus hat sich mit dem «Buatsch»-Festival an «Futur» beteiligt. Bild: Avi Sliman.

Zwischen wildem Eremitenland und Stadtflucht-Bastion

Was hat die Ausstellung «Futur» der Val Lumnezia gebracht?
Eine Bilanz mit verschiedenen Protagonisten.
– von Jano Felice Pajarola, Samstag, 11. April, 2020, Südostschweiz

Still und leise ist sie kürzlich zu Ende gegangen, nachdem die Casa d’Angel in Lumbrein ihre Türen wie alle Schweizer Museen schliessen musste. Doch was bleibt von der Ausstellung «Futur» und ihrem Blick in die Zukunft? «Wie wollen wir hier leben?», das hatten Kurator Michael Hiltbrunner und Anne-Louise Joël, Leiterin des Lugnezer Kulturhauses, gefragt. Und von Juni 2019 bis diesen März stand die Casa d’Angel ganz im Zeichen der Antwortversuche, gegeben von sieben auswärtigen Kunstschaffenden und einem jungen Kollektiv aus Tersnaus. Sechs künstlerische Beiträge in Projektform wurden realisiert, vielfach mit Einbezug von Menschen aus der Val Lumnezia. 

Abstrakter und komplexer
«Es war eine schwierigere, abstraktere, auch komplexere Ausstellung als andere zuvor», stellt Joël rückblickend fest. Wohl deshalb sei sie von weniger Leuten im Tal wahrgenommen worden – allerdings hätten im Verhältnis zur Bevölkerungszahl doch auch recht viele Personen mitgemacht. Unter anderem sei klar geworden, dass es den kreativen künstlerischen Zugang zum Thema Zukunft brauche. «Die Casa d’Angel hat in dieser Hinsicht eine Scharnierfunktion. Aber wie man diese Aufgabe am besten erfüllt, muss man noch herausfinden», meint Joël. «Wir müssen dranbleiben und den Diskurs beibehalten.»
Auch Kurator Hiltbrunner zieht ein differenziertes Fazit. Bei einigen Anlässen im Programm sei gar niemand aus dem Lugnez dabei gewesen, bei anderen wiederum sei praktisch nur Romanisch geredet worden. Er ist überzeugt: «Wir haben es geschafft, unterschiedliche Gruppierungen der Einheimischen zu involvieren, und nicht nur eine gewisse Schicht.»

Keine Unmöglichkeiten
Aus inhaltlicher Sicht stellt Hiltbrunner in einer Bilanz fest: «Natürlich gibt es Probleme, überall. Die Jungen ziehen weg, der Schnee geht zurück, immer mehr Häuser sind Zweitwohnsitze, das Romanische wird zu wenig gepflegt.» Doch all das seien eben Probleme und «keine Unmöglichkeiten». Es gelte, einander Platz zu lassen. «Wenn Anderes zugelassen wird, Leute hier ankommen können, auch Zweitwohnsitzler sich im Alter dauerhaft hier niederlassen, Romanisch lernen und hier aktiv werden, ist neues Leben möglich. Wenn junge Einheimische nach ihrer Ausbildung in den Städten wieder hier in den Bergen leben wollen, wird das Tal lebendig.»
Ähnlich sieht es Agnes Barmettler, eine der an «Futur» beteiligten Künstlerinnen. «Wo Menschen ihr kreatives Vermögen einsetzen und damit einander bereichern können, wo Gastfreundschaft, Handwerk, Felder, Wiesen und Wälder gepflegt werden, wo Leute miteinander und füreinander arbeiten, wo neue Sprachen gelernt werden» – da müsse sich auch künftig niemand vor steilen Abgründen fürchten, meint sie zur Zukunft der Val Lumnezia.

Vier Szenarien aus Tersnaus
Vier ganz konkrete Szenarien hat Leander Albin entwickelt, Mitglied des Kollektivs Tersnaus, das nach neuen Wegen für das Leben in den Bergen sucht und im Rahmen von «Futur» das von mehr als 300 Personen besuchte Festival «Buatsch» (Kuhfladen) veranstaltet hat.
Szenario 1: das Lugnez als verwildertes Eremitenland, in dem die Natur ins Gleichgewicht kommt und sich einzelne «wilde» Menschen wohlfühlen. Szenario 2: das Ferienvergnügungstal, attraktiv für Urlaub, zum Wohnen aber kaum. Szenario 3: «Status quo minus», alles oder weniger bleibt, alle bleiben etwas unzufrieden. Szenario 4: die Stadtflucht-Bastion. Aktive, motivierte Leute suchen ein neues Zuhause im Berggebiet, Dörfer erfahren Belebung, Ställe werden zu Ateliers, Werkstätten, Schulraum, in Häusern leben Gross Wohngemeinschaften. Die Einheimischen, zuerst eher skeptisch, erkennen rasch den Vorteil dieses Wandels.
Hiltbrunner räumt ein: Dieses positive Szenario 4 ist in der Realität nicht erkennbar. Als Zukunftsvision für einen stadtfernen Ort wie Tersnaus funktioniere die Dystopie der Stadtflucht nicht, vermutet er. Hilfe für den Aufschwung biete Letztere nur an weniger entlegenenOrten.

Zu teure Immobilien?
Im Rahmen von «Futur» ist laut Hiltbrunner zudem eine Schwierigkeit mehrfach zum Diskussionsthema geworden: Private wollen ihre Häuser im Tal meist – vielfach auf Druck ihrer Verwandtschaft – zu einem hohen Preis verkaufen. Das führt dazu, dass sich gerade junge Leute im Lugnez keinen Wohnraum leisten können. «Die Gemeinde hätte es in der Hand, Szenario 4 zu stärken, indem sie ihre Immobilien zu einem günstigen Preis freigibt», findet Hiltbrunner. Allerdings tut sie das laut Gemeindepräsident Duri Blumenthal bereits: «Die Immobilien der Gemeinde sind zu sehr günstigen Preisen zu mieten», so Blumenthal. «Weiter kann man Bauland zu einem fixen Preis von 85 Franken pro Quadratmeter erwerben. Viel mehr können wir nicht machen.»