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Brunnenklang und Käferchoral

  • Links: Übergang des Wassers vom oberen in den unteren Trog des Brunnens beim Restaurant Ustria dalla Posta in Vrin. Rechts: Das Audiogerät ist für die Tonaufnahmen im Einsatz.

  • Links: Letzter Brunnen in Vrin bevor man das Dorf in Richtung Westen verlässt. Rechts: «versteckter» Brunnen. Er wurde von Celia Längle so benannt, weil sie ihn im Winter hinter dem Schneehügel nicht entdeckt hatte.

  • Links: An diesem Brunnen traf Celia Längle auf die Bäuerin Jana. Rechts: Brunnen neben dem Restaurant Ustria dalla Posta. Der Brunnen ist für Besucher*innen am sichtbarsten, weil an der Seite ist ein Wegweiser zu den öffentlichen Toiletten angebracht ist.

  • Vor 1953 gab es nur einen Brunnen im Dorf. Im selben Jahr wurden die noch heute vorhandenen fünf Brunnen in Vrin errichtet.

  • Aufnahmepause auf der Mauer hinter der Kirche.

  • In Vrin gibt es heute fünf Dorfbrunnen. Celia Längle hat sie auf der Karte markiert und benannt. Bildquelle: Google Earth.

Fast eine Woche lang spazierte Celia Längle im vergangenen Winter durch die engen Dorfgassen von Vrin, immer auf der Suche nach einer passenden Form für ihr Kunstprojekt. Mit dabei war ihre Kamera. «Durch die Linse schaut man anders, viel genauer. Ich traf in Vrin nicht auf viele Leute, aber wahrscheinlich sahen viele mich», sagt sie.

Die Zürcher Künstlerin mit liechtensteinischen Wurzeln wohnte in dieser Zeit im Hotel Péz Terri, dem einzigen Vriner Hotel. Abends sass sie oft alleine an ihrem Laptop im Gastraum. Irgendwann lud man Sie an den Stammtisch ein, der «meisa rodunda», wo sie mit einigen Einheimischen Bekanntschaft schloss und sich austauschte: «Als Künstlerin sehe ich bei diesem Projekt neben dem künstlerischen auch einen sozialen Auftrag. Ich möchte die Kluft zwischen Stadt und Land/Dorf thematisieren, ohne dass meine Arbeit dabei hierarchisch oder didaktisch wirkt.»

Celia Längle lief. Sie lief von Vrin nach Cons, nach Puzzatsch und zurück. Eines Nachmittags lief sie auf dem Winterspazierweg von Vrin nach Lumbrein zur Casa d’Angel. Da kam ihr von Weitem ein alter Mann entgegen, der Kirchenlied sang. Sie war neugierig, fragte ihn nach dem Lied und die beiden kamen ins Gespräch. «Kirchen und Musik waren früher zwei wichtige Pfeiler der rätoromanischen Tradition. Das waren in etwa die Kernaussagen dieses Gesprächs», erinnert sich die Künstlerin. Der Mann sei viele Jahre Mitglied des Kirchenchors gewesen. «Der Klang seiner Stimme und die Melodie faszinierten mich,», fügte sie an. Zurück in Vrin fiel ihr plötzlich auf, dass man überall, wo man stand, den Klang eines Dorfbrunnens hörte. Celia Längle fand in Vrin fünf davon. Vor 1953 gab es nur einen einzigen Brunnen im Dorf. Im selben Jahr wurden die fünf Brunnen erbaut, die heute in Vrin stehen. «Noch heute ist der Brunnen ein wichtiger Teil des Alltaglebens und des Ortsbilds. Sie werden z.B. benutzt, um nach dem Mähen die Sense zu putzen. Manche waschen sich am Brunnen die Hände oder das Gesicht, bevor sie ins Haus gehen», sagt die Künstlerin.

Zur Entdeckung der Brunnen kam das alte Volkslied La canzun dil bau hinzu. Das Lied besingt das Schicksal eines stolzen Käfers, der durch die Felder flaniert und den Bauern beim Arbeiten zuschaut. Genauso fühlte sich Celia Längle, als Städterin, die durch Vrin spazierte und die Einheimischen aus der Distanz bei der Arbeit beobachtete. Das Lied des stolzen Käfers endet leider tragisch. Am Schluss wird er qualvoll zertreten. Celia Längle möchte in ihrer Arbeit Kreisläufe durchbrechen und nicht das gleiche Schicksal wie der Käfer durchlaufen: «Meine Position als Flaneurin und Künstlerin aus der Stadt ist vielleicht ansatzweise mit der Rolle des Käfers im Lied vergleichbar. Das Lied passte daher sehr gut in mein Arbeitskonzept.» In der Kombination des Liedes und der Vielschichtigkeit der Brunnenklänge fand sie schliesslich die Idee für ihre künstlerischen Arbeit. Celia Längle nahm die Klänge aller fünf Dorfbrunnen auf und baute La canzun dil bau zu einem vierstimmigen Choral aus. Die Künstlerin wurde zur Zuhörerin. «Jeder Brunnen hat drei Hauptklänge. Es sind Stufenbrunnen. Zuerst hört man oben beim Hahnen, wie das Wasser in den Trog hineninfliesst. Dann wechselt das Wasser leise vom oberen in den unteren Teil. Wenn das Wasser in den Abfluss gelangt, ensteht ein halliger Klang.»

Celia Längles Arbeit liefert nur hypothetische Antworten auf einer emotionalen und assoziativen Ebene. Das Endprodukt ist eine Soundinstallation in der Casa d’Angel. Fünf Lautsprecher stehen je für einen der Brunnen im Raum. Zusammen bilden sie sich zu einem mehrstimmigen Brunnenchoral, der sich im Verlauf der knapp 30-minütigen Installationsdauer ansatzweise zum Volkslied La canzun dil bau entwickelt und sich aber wieder ganz auflöst. Die Künstlerin wünscht sich, dass die Besucher*innen sich auf ihr Werk einlassen, zuhören und dabei die Vielschichtigkeit erkennen.

Und in Bezug auf die Thematik der Ausstellung «Futur Lumnezia» – worin sieht die Künstlerin das zukünftige Potential der Berg- und Randregionen wie das Val Lumnezia? «Die Menschen im Tal befinden sich teilweise in einer Dilemmasituation. Immer mehr Menschen gehen weg und eigentlich will man doch, dass mehr Leute kommen. Aber Celia Längle will in ihrer Rolle als Künstlerin keine Zukunftsprognosen stellen oder gar moralisieren. «Es gibt sicher Qualitäten, die man vielleicht noch nicht erkannt hat. Liegt die Zukunft darin?», fragt sie.

Der Kurator Michael Hiltbrunner präsentiert Celia Längles La Canzun dil Bau am 11. Oktober um 15.15 Uhr in der Casa d’Angel in Lumbrein im Rahmen einer Führung. Anschliessend gibt es um 18 Uhr einen offenen Stammtisch im Restaurant des Hotels Péz Terri in Vrin. Der Kreis schliesst sich nun doch an dem Ort, wo alles begann, an der «meisa rodunda», dem runden Tisch in der Gaststube. Celia Längle will aber keine künstliche Diskussionsrunde anzetteln. Es gibt keine Reden und auch keine Vorträge. An diesem Abend will sich Celia Längle einfach an den runden Tisch im Péz Terri setzen, sich ein Bier bestellen und den Gästen mit einem «Viva» zuprosten.


Die Künstlerin Celia Längle lebt und arbeitet in Zürich, celialaengle.allyou.net
Das Gespräch mit Celia Längle führte Annatina Nay am 20.08.2019 in Zürich.

© Fotos: Celia Längle, Google Earth, Screenshot
© Text: Annatina Nay, annatinanay.ch