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Ein Datenkristall für Val Lumnezia

  • Ella Littwitz und Michal Baroz: Crystallization, 2019. Computergenerierte Animation, Loop, Videostill.

  • Michal Baroz, Ella Littwitz, Michael Hiltbrunner in Cumbel (von links).

  • Ella Littwitz und Michal Baroz: Crystallization, 2019. Computergenerierte Animation, Loop, Videostill.

  • Die Gesprächsrunde in Cumbel.

  • Carmelia Maissen in Cumbel.

Ella Littwitz und Michal Baroz zur Zukunft des Tals

Die israelische Künstlerin Ella Littwitz setzt sich in ihrer Arbeit mit dem Konflikt zwischen Israel und Palästina auseinander, aber auch mit der Wahrnehmung von Israel durch andere Staaten. So hat sie Erde gesammelt aus Staaten, die von israelischen Staatsbürger*innen nicht betreten werden dürfen und diese in einer flachen Schale nebeneinander gelegt. In ihrer Arbeit zeigt sich der Konflikt als wichtiger Bestandteil von Identität; er zeigt an, wo wir die eigene Identität von der Gegenseite abgrenzen.

Recherche in Israel
Das Projekt FUTUR wollte eine Sicht von aussen. Dabei war klar, dass diese Person möglicherweise die Val Lumnezia nie gesehen und wahrscheinlich auch noch nie davon gehört hatte. Genau das war bei Ella Littwitz der Fall. Zwar zeigte sie 2019 in der Kunsthalle St. Gallen eine Einzelausstellung, jedoch war sie damit ausgelastet und konnte nicht die weitere Schweiz besuchen.

Gleichsam als Wagnis wollte die Casa d’Angel sie fragen, ob sie interessiert wäre, die örtliche Identität zu recherchieren und mögliche Konfliktlinien festzustellen – in diesem als höchst friedlich wahrgenommenen Tal. Es war ungewiss, ob sie sich darauf einlassen würde, da sie als Künstlerin mit Installationen, Skulptur, Textilien und Video gearbeitet hatte und nicht als forschende Künstlerin bekannt war. Doch sie reagierte mit Begeisterung und schlug vor, die israelische Architektin Michal Baroz miteinzuladen. Sie beide recherchierten in Israel und fanden wertvolle Hinweise in den statistischen Daten, die die Eidgenossenschaft seit 2013, der Gründung der Gemeinde Val Lumnezia, für das ganze Tal erhebt.

Gespräch in Cumbel
Im September kamen die beiden nach Val Lumnezia und präsentierten ihr Vorgehen in einem Gespräch in Cumbel, an dem auch der Davoser Fotograf Jules Spinatsch und Carmelia Maissen, die Stadtpräsidentin von Ilanz, teilnahmen. Das Gespräch begannen Ella Littwitz und Michal Baroz mit einer Präsentation ihres Vorgehens und eines überraschenden Produkts: Einer Videoanimation der von ihnen ausgewerteten statistischen Daten als Objekt, das zwischen einer Ansammlung von Grafen und einem surrealen Kristall kippte. Rund 20 Personen waren an die Veranstaltung gekommen, jüngere und ältere, meist Einheimische, auch Zweitwohnsitzler*innen, Mitglieder der Fundaziun da cultura Lumnezia und auswärtige Kunstinteressierte. Es wurde auf Deutsch und Englisch und teilweise auf Sursilvan übersetzt.

Kristalline Fragen
Sie alle wussten nicht so recht, was die Kristall-Animation von Ella Littwitz und Michal Baroz zu bedeuten habe. Darauf meinten beide, dass sie aus Israel und in den wenigen Tagen, die sie nun in Lumnezia verbracht hatten, keine Antworten geben könnten. Die Auswertung der Daten hätten ihnen aber Fragen aufgeworfen, die sie nun dem Publikum gerne stellen möchten:

Warum sind die Hauspreise so hoch?
Warum gibt es gar keine Scheidungen mehr?
Warum sinkt die Wirtschaftsleistung im Tal?
Warum nimmt die Einwohner*innenzahl ab?
Warum gibt es nur 5% Ausländer*innen?
Warum gibt es so wenige Kinder?

Die Fragen trafen den Nagel auf den Kopf. Offensichtlich sind die aktuellen Probleme auch bei einer Fernrecherche aus Israel sichtbar. Tja! Von diesem Moment an entspann sich ein offenes Gespräch unterschiedlicher Meinungen, welches im Tal offenbar ein Bedürfnis ist. Auch Carmelia Maissen bestätigte als örtliche Politikerin diesen Bedarf: Im Zentrum stehe bisher immer das quantitative Wachstum einer Region. Die Lumnezia zeige aber, dass wir dringend feststellen sollten, welche besonderen Qualitäten die Region hat und wir auf ein qualitatives Wachstum setzen können. Es sei aber noch immer ein Tabu, über diese Qualitäten zu sprechen und sie zu benennen.

Konflikte in Lumnezia
Der Konflikt ist sichtbar: Wie kann gleichzeitig auf die örtliche Qualität und auf die jetzt vorhandene Wirtschaft gesetzt werden? Stehen sie sich nicht im Weg? Die naturnahe Besiedlung, die Stille, das Licht wurden als positive Elemente genannt. Eine stärkere touristische Bautätigkeit würde dem im Wege stehen.

Ein Teilnehmer aus Laax, einer Gemeinde mit grosser Wirtschaftsleistung in Surselva, meinte zugespitzt, dass den Hausbesitzern bei einem Verkauf des Hauses von den Verwandten die Hölle heiss gemacht würden, damit sie einen möglichst hohen Preis aus dem Haus schlagen. Diese Haltung treibt natürlich die Hauspreise in die Höhe und macht es Auswärtigen schwer, sich vor Ort niederzulassen. Dabei müssten die Wohnungen in Lumnezia günstiger sein als in Ilanz, wo die meisten Arbeitsplätze sind.

Eine Teilnehmerin, Zweitwohnsitzlerin, meinte, dass der Ort für Zuwandernde doch optimal wäre, hier könnten die Kinder zu Fuss zur Schule und auch alleine draussen spielen. Viele Familien mit Kindern, die in Lumnezia Urlaub machen, können die Kinderfreundlichkeit sicher bestätigen. Doch hier Ansässige müssen, da es in Lumnezia nur noch eine Schule gibt, mit dem Schulbus fahren. Auch sei erschwerend, dass in der Schule in Lumnezia Sursilvan gesprochen werde, weshalb neue Kinder die Sprache erlernen müssten.

Ein Einheimischer meinte wiederum, dass er das Haus, dass er woanders in der Surselva mit seiner Familie besitze, trotz tiefem Mietpreis kaum vermieten könne, da es schattig und nicht an einem Bahnhof liege. Klar ist, dass die alten Häuser in dieser Gegend zwar sehr pittoresk sind, aber nur selten dem heutigen Komfort entsprechen. Als Ferienhäuser hingegen sind sie sehr schön. So wird Haus um Haus zu einem begehrten Feriendomizil. Die Fensterläden sind oft zu, die Betten kalt.

Qualitatives Wachstum
Es muss sich was ändern, ein Teilnehmer, der in Lumbrein und Zürich wohnt und arbeitet, zitierte provozierend den Tessiner Architekten Luigi Snozzi, der auf die Frage, was die Jungen in den hiesigen Tälern machen sollen, meinte, sie sollen einfach wegziehen, in die Stadt! Dort gäbe es eine grosse Auswahl an Restaurants statt Streit mit der einzigen Dorfbeiz und auch sonst alles, was die Jungen brauchen. Die Bergdörfer hingegen, die seien für Kühe gebaut, «und Kühe gibt es jetzt keine mehr». Zwar gibt es in Lumnezia noch Kühe, doch sie nehmen ab, Ziegen gibt es kaum noch. Einige Höfe sind innovativ, betreiben biologischen Gemüsebau, eine Fischzucht, viele Höfe haben auf Bio umgestellt. Wenn aber die Dörfer kaum mehr Einwohner*innen mehr haben, wie soll der Unterhalt der aufwändigen Infrastruktur überhaupt noch finanziert werden?

Wir sassen in der Ustria Larisch, in der Küche trockneten Preiselbeeren und Kräuter aus dem eigenen Garten. An der Wand gab es Tinkturen verschiedenster heimischer Wildpflanzen – Johanniskraut, Eschensamen, Goldrute, Schafgarbe, Brennnessel, Augentrost, Spitzwegerich, Weissdorn, Vogelbeere und Beinwellwurzel. Es war Jagdsaison, Wild war auf der Speisekarte und es war auch Pilzsaison – die beste seit langem. Vielleicht sind das Antworten auf das qualitative Wachstum und zeigen gleichzeitig dessen Problematik. Denn Maurice Maggi, Kräuterspezialist und Fachgeschäfteberater, hatte an einer Tagung in Zürich erklärt, dass sich das Sammeln und Verwerten von Wildkräutern und -früchten nur selten finanziell lohnt: «Wir tun es aus ganz anderen Gründen – weil es uns gut tut.»

Widerstand
Der Fotograf Jules Spinatsch wiederum sah die Auseinandersetzung mit dem vor Ort stattfindenden Widerstand als wichtiges Element der Annäherung an die örtliche Situation. Wer ist nicht zufrieden mit dem Zustand, wer widersetzt sich? Wer wehrt sich? In einem Buch zur Ortsgeschichte in Davos fotografierte er dafür eine Anti-WEF-Demo und ein Punkkonzert.

So erhielt das dreisprachige Gespräch mit reger Beteiligung eine Spannung und Kürze, die zeigte, wie dringlich dieses Aushandeln der örtlichen Qualitäten ist. Verschieden sind die Umsetzungsideen, doch alle möchten, dass die örtliche Sprache und Kultur, die Schönheit des Tals, der respektvolle Umgang der Menschen untereinander und so die Menschen selbst hier weiterleben können.

© Fotografien: Sven Schönwetter
© Text: Michael Hiltbrunner