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In Zukunft ein Freilichtmuseum?

  • Passarella im Kasten - Museumsführer und Museumsaufseher bei der Arbeit. Foto: Susanne Kudorfer

  • Passarella Transport im Modell. Foto: Peter Bux

  • Passarella: Transport 1:1 nach Susch 2019. Foto: Patrick Gartmann

  • Lebendes Passarella-Modell. Foto: Alain Rappaport

  • Turnhalle mit Lehrstuhl für Spaziergangswissenschaft. Foto: Susanne Kudorfer

  • 4 Beine, 2 Spielzeugautos auf Asphalt (auto-auto-bot). Foto: Anke Nowottne

  • We will never be so close again. Foto: Sven Schönwetter

  • Christian Ratti mit Cyanometer, Michael Hiltbrunner (Kurator) und Hermano Santos (Museumsaufseher). Foto: Susanne Kudorfer

  • Auf dem Theatervorhang. Foto: Susanne Kudorfer

  • Hängebrücke bei Silgin. Foto: Michael Hiltbrunner

In Zukunft ein Freilichtmuseum mit auto-auto-bot?

Etwas zu spät treffe ich mit Beat an der Bushaltestelle Vrin Post ein. Christian Ratti hat mit den einleitenden Worten zum Programm schon begonnen. Zwei Herren in Schwarz amten mit respektabler Kopfbedeckung und Stuhl an seiner Seite. Wir lösen den Eintritt – 50 Rappen für eine ausgedehnte Führung im Bündner Freilichtmuseum. Für heute wird dieses Freilichtmuseum vom Künstler behauptet und wir werden sehen, ob es eine Zukunft hat. Ratti führt uns zu Bauten und Orten zwischen Vrin und Silgin. Mit Objekten und Geschichten schliesst er an vorangegangene und laufende Projekte an. Per Telefon stellt er weitere Verbindungen her in den Kanton und in die Zukunft.

Los geht`s mit der 2014 geretteten Passarelle des Bündner Kunstmuseums. Sie könnte der Eingang ins Bündner Freilichtmuseum sein. Ratti zeigt Bilder davon im Schaukasten und rollt ihre Geschichte entlang der Strasse auf. Die Passerelle verband zwei Bauten, die das Bündner Kunstmuseum in Chur nutzte. Das erste, die Villa Planta liess sich Jacques Ambrosius von Planta als Wohnhaus bauen. Er handelte in Alexandria unter anderem mit Baumwolle. Ratti vermutet, dass die von Planta ihren Reichtum der Sklavenarbeit auf den Plantagen verdanken. Während Hermano Santos Watteflocken und Jeans auf der Mauer drapiert, erklärt Ratti am selbst gebastelten Architekturmodell die Geschichte des zweiten Gebäudes, dem inzwischen abgerissenen und durch einen Neubau ersetzten Sulserbau. Verbunden waren die Gebäude durch einen verglasten Gang mit markanten Stützen – die Passarelle. Für den Bau zeichnete ein Team von Architekten der Region verantwortlich, der bekannteste heute: Peter Zumthor. Jürg Conzett war mit von der Partie. Wir werden dem Ingenieur in der Turnhalle von Vrin wieder begegnen.

Zumthors Passarelle hat es nicht nur Ratti angetan. Patrick Gartmann, Ingenieur und Architekt in Chur hat sie beim Neubau des Kunstmuseums vor der Zerstörung gerettet. Leider wurden für den Transport die Stützen gekappt so dass das Teil ziemlich schief dastand am ersten provisorischen Standort. Eine neue Funktion wurde nicht gleich gefunden – klassischer Fall für ein Freilichtmuseum? Ratti erkundete die Umgebung und startete geführte Spaziergänge, unterstützt von der Kulturförderung Graubünden.

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle erwähnen, dass ich im Freilichtmuseum der Schweiz auf dem Ballenberg arbeite. Dort ist der Kanton Graubünden mit einem kleinen Heustall aus Vals und mehreren Alpgebäuden präsent. Ein Engadiner Haus steht noch auf der Wunschliste, doch die Bündner Bauernhäuser bleiben glücklicherweise lieber vor Ort stehen. Moderne und städtische Architektur sammelt der Ballenberg nicht. In diesem Fall: schade eigentlich. So wird die Passarelle voraussichtlich in einem Garten in Susch endgültig zum Stehen kommen.

Was hat das alles mit der beim Projekt FUTUR gefragten Zukunft im Val Lumnezia zu tun? Wenn wir uns ganz Graubünden als ein Freilichtmuseum vorstellen, gehört das Tal des Lichts dazu. Doch es gibt noch mehr Verbindungen zu Rattis Geschichtengespinst. Seit der Fusion der acht Talgemeinden wird das ehemalige Gemeindehaus von Lumbrein als Kulturhaus genutzt. Die Casa d’Angel ist Veranstalter des Projektes FUTUR. Das ehemalige Bauernhaus liess der Besitzer in den 1980er Jahren vom Atelier Zumthor umbauen. Als Kulturhaus wurde es im Sommer 2015 mit einem Gastspiel des Bündner Kunstmuseums eröffnet.

Zu den architektonischen Juwelen in Vrin am Ende des Tals zählt die von Gion Caminada mit Jürg Conzett realisierte Turnhalle. Hier gibt es Bündner Gerstensuppe zum Mittag und weitere Teile der Aktion. Ratti hat in der Turnhalle kleine Eingriffe vorgenommen. Er platzierte Aktenordner, einen Fischkescher und eine Suppenkelle, Bauhelm und Sicherheitsweste, das «&» einer Werbeleuchtschrift in Vor- und Nebenräumen. Relikte und Verweise auf andere Projekte, die nicht alle bei der Führung kommentiert werden. In der Turnhalle selbst hat er die Sprossenwand zur Bibliothek umfunktioniert. Mitten im Raum liegt ein grosses Stück Stoff – ein ehemaliger Vorhang des Theaters Chur. Ratti erzählt, wie er ihn mit der Direktorin Ute Haferburg aus dem Abfallcontainer rettete. Unter seiner Regie performen die Teilnehmenden darauf in der Turnhalle die Passarelle. Der Grösse nach um die Fläche aufgestellt stehen wir da wie die Stützen und Lättli des ehemaligen Verbindungsstücks – gegenläufig rauf und runter, um den Höhenunterschied auszugleichen. Feierlich lässt uns Ratti in Paaren über des Samttuch schreiten. So sind wir zuerst von hoch nach niedrig, dann umgekehrt aufgestellt und ahmen mit unserer Bewegung die architektonischen Elemente des Wandelganges nach.

Die Stimmung in der lichtdurchfluteten Halle bleibt mir besonders in Erinnerung. Wir stellen die Tische hin und essen auf der Bühne. Die Kinder klettern an den Ringen, turnen auf der Matte. Wir unterhalten uns, schauen aus den Fenstern. Während wir so den grossen Raum nutzen, findet im Eingangsbereich ein Kleiderflohmarkt statt. Leute aus dem Ort haben das organisiert und der Anlass hat nichts mit Rattis Führung zu tun. Weil sie den Platz brauchen überarbeiten die Frauen des Organisationskommitees Rattis Installation und stellen sie nach ihrer Veranstaltung wieder her. Als wir aufbrechen um den Rundgang fortzusetzen treffen wir sie am Container. Ratti hilft beim Entsorgen der restlichen Kleider, weil er besser an die Klappe kommt. Diese Situation während der Aktion mag ich sehr. Denn auch wenn in der Turnhalle keine Schulstunden mehr stattfinden ist der Raum heute gut genutzt: gleichzeitig als Ausstellungs- und Aktionsort für den Künstler mit seiner Wandergruppe und als Tauschbörse für gebrauchte Textilien. Wenn das keine Zukunft hat!

Bevor wir die Turnhalle verlassen, präsentiert Ratti den Lehrstuhl für Spaziergangswissenschaft. In der Einladung zur Veranstaltung war erwähnt, dass in der Passarelle ein Studierzimmer für Spaziergangswissenschaften eingerichtet werden könnte. Ein Lehrstuhl setzt da noch eins drauf – so was gibt es sonst nur an Hochschulen. Professor Lucius Burckhardt hat in den 1980er Jahren mit seiner Frau Annemarie und Studierenden in Kassel und Basel die Spaziergangswissenschaft/ Promenadologie begründet. Ratti versteht sich als Spaziergangswissenschaftler.

Das Objekt, der Lehrstuhl, wurde von Luzi Müller hergestellt – in seinem Schrebergarten in der Nähe des Wertstoffhofs, bei dem die Passerelle zwischengelagert wurde. Dass man auf dem aus Ästen zusammengesteckten und mit Schnitzereien verzierten Objekt nicht wirklich sitzen kann, habe ich gemerkt. Macht ja Sinn bei einem Lehrstuhl fürs Spazieren. Luzi Müller hat Christian Ratti in Chur und Vrin unterstützt und er ist bei unserem Rundgang mit dabei. Er hat auch eine Knochenflöte geschnitzt, die leider wegen Grippe der Churer Flötistin Riccarda Caflisch nicht zu hören war. Ratti traf Luzi zufällig bei seinen Passerella-Erkundungen in Chur wieder. Die ehemaligen Nachbarn hatten sich seit ihrer Jugend nicht mehr gesehen.

Was passiert nun mit diesem Lehrstuhl? Im Dezember wird er die Ausstellung FUTUR in der Casa d`Angel ergänzen. Das Schnitzwerk von Luzi Müller wird dort für Rattis Aktion stehen. Vielleicht gibt der Lehrstuhl dem Val Lumnezia aber auch ein Werkzeug an die Hand, Zukunft spazierend zu gestalten.

Der Rundgang wird fortgesetzt. Raus aus der Turnhalle zu Friedhof und Kirchturm von Vrin. Weiter geht`s auch mit Zukunftsfragen. Der Tod ist fraglos unser aller Zukunft – auch wenn wir das selten wahrhaben wollen. In der von Caminada gebauten Totenstube erfahren wir einen architektonischen Rahmen für die Begegnung von Leben und Tod.

Eine technische Zukunftsvision erscheint bei der Begehung des Kirchturms. Wie kommunizieren die Menschen im Tal? Christian Ratti hat festgestellt, dass die Leute sich hier gerne beim Entgegenkommen auf der Strasse über das Autofenster hinweg unterhalten. Über die Treppe entlang den Mauern besteigen wir den engen dunklen Kirchturm. Eine Projektion auf dem Boden zeigt die Ausstellungssituation in Lumbrein mit Werken des Bündner Künstlers Jules Spinatsch. Er hat Menschen aus der Ferne durch ihre Autofenster fotografiert in Paris und New York. Ganz nah doch ohne Gegenüber erscheinen die unwissend Abgelichteten der Serie «We will never be so close again». Ein Wegweiser für die Kommunikation der Zukunft? Jedenfalls eine Verbindung zur Auto-an-Auto Kommunikation auf den Strassen des Tals, die uns Ratti mit Spielzeugautos auf der Strasse vorgeführt hat.

Wir stehen im Kirchturm mit Blick auf die Fotos von Spinatsch, als der erste Anruf beim inszenierten Kommunikations-Automaten der Gemeinde erfolgt. Stück für Stück erfahren wir auf dem weiteren Weg nach Silgin von der Entwicklung einer Mobilitäts-Vision für das Lugnez: den auto-auto-bot, ein Beitrag von Alexander Tuchaček. Die Stimme aus der Serviceschleife führt uns über Rattis Handy eine Idee vor Augen, wie Menschen davon abgehalten werden könnten, das Tal zu verlassen. Ein spezielles Navigationssystem würde die Fahrer auf andere Wege führen: zu anderen Fahrern, mit denen sie beim Entgegenkommen auf der Strasse stehen bleiben und sich über die Autoscheibe hinweg unterhalten. Der auto-auto-bot würde die Kommunikation in der Gemeinde fördern und dadurch Abwanderung eindämmen. Wie wird diese Vision im Tal wohl ankommen?

Wir sind weiter zu Fuss unterwegs von Vrin über die Hängebrücke nach Silgin zu Kaffee und Kuchen. Eine Rast legen wir mit Blick in den nicht ganz so blauen Himmel ein. Ratti stellt ein Instrument vor, das Wissenschaftler benutzten um das Himmelsblau zu messen. Mit so einem Cyanometer (das heiligenscheinartige Rund auf dem Bild) kann man die Farbe von Weiss bis Dunkelblau einstufen. Teils stehend, teils liegend auf weiteren Theatervorhängen einigten wir uns auf einen Wert und verglichen diesen per Telefonschaltung mit Pontresina.

Zurück geht’s im Bus und automobilen Fahrgemeinschaften zur Turnhalle. Ein Teil der Gruppe kocht für den Rest das Nachtessen im ehemaligen Schulhaus Cons, heute eine Gruppenunterkunft. Auch hier ein warmer einladender Ort für vielfältige Gruppen und ihre Bedürfnisse.

Das Freilichtmuseum Graubünden schliesst für heute. Wird es weiter gehen? Im Rahmen von Rattis Führung entstandene und präsentierte Ideen für die Zukunft werden ab 22.12.2019 die Ausstellung FUTUR ergänzen.  Am Samstag, 29.2.2020 diskutieren der Aktivist Leander Albin (Tersnaus), die Künstlerin Celia Längle (Zurich), die Theater Direktorin Ute Haferburg (Theater Chur), die Kuratorin Josiane Imhasly (Zur frohen Aussicht, Ernen VS | Samedan | Zurich), der Architekt Reto Zindel (Chur), moderiert von Ric Allsopp (Performance Research Journal) und Michael Hiltbrunner künstlerische Herausforderungen in Bergdörfern. Der Anlass findet in Zusammenarbeit mit der Dalvazza Group des Swiss Artistic Research Network SARN statt.

Susanne Kudorfer ist Kunst- und Kulturvermittlerin. Kennen gelernt hat sie Christian Ratti 2010 bei einem Forschungsprojekt zu Räumen der Kunstvermittlung im Kunstmuseum Luzern wo er mit Studierenden und Mitarbeitenden des Museums die Führung «Von Nagel zu Nagel» realisiert hat.

© Fotografien: Susanne Kudorfer, Peter Bux, Alain Rappaport, Patrick Gartmann, Anke Nowottne, Sven Schönwetter, Michael Hiltbrunner
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Text: Susanne Kudorfer