blog, Reportage, Sandra Knecht

Ich will meine Gäste ergreifen

  • Sandra Knecht im Val Lumnezia.

  • In der Maiensässhütte oberhalb von Lumbrein, Sandra Knecht und Geissen.

  • Trockenwurst aus reinem Kuhfleisch.

  • Schafgarben, Thymian und andere Alpenkräuter.

  • Sandra Knecht im Val Lumnezia.

  • In der Maiensässhütte.

  • Geissbein.

  • Sandra Knecht und Tiere.

  • Maiensäss oberhalb Lumbrein.

Ich bin Künstlerin, ich forsche und koche. Meine Kunst kann man nur kaufen, indem man sie isst. Die Kunst geht über die Sinne in den Körper. Sie wird verinnerlicht und ist so auch für Kunstunkundige zugänglich. Durch das Essen erreiche ich die Menschen.

Von Buus nach Lumbrein
Ich wollte ursprünglich mit meinen vier Geissen und drei Hunden von meinem Wohnort Buus im Baselbiet bis ins Val Lumnezia wandern. Aber wegen eines anderen Projekts gab es eine Planänderung. Ich bin im Juli drei Wochen vor Ort, erforsche die Gegend und bereite mich für mein Projekt vor. Vom 23. bis zum 31. August werde ich an fünf Abenden jeweils fünf Gänge für 15 Personen kochen. Ich werde jedoch nicht nur kochen, sondern auch mit meiner Hasselblad Kamera Polaroidfotos machen. Diese stelle ich im Maiensäss aus. Die Hütte wird zum Ausstellungsort und es gibt nicht nur Essen, sondern auch Kunst.

Von Buus nehme ich selbstgebrannte Gewürz- und Fruchtschnäpse sowie Trockenwürste aus Kuhfleisch mit. Diese enthalten weder Schweinefleisch noch Nitritpökelsalz. Im Val Lumnezia sammle und besorge ich weitere Nahrungsmittel. Das Menu wird eine Mischung zwischen Buus und dem Val Lumnezia sein.

Das Val Lumnezia ist für mich noch ein unbeschriebenes Blatt. Ich weiss nicht, was passieren wird, aber ich möchte das Tal geschmacklich erforschen. Als Künstlerin suche ich nach Geschichten. Ich überlege mir, wie ich diese auf einen Teller bringen in einem simplen Essen erfahrbar machen kann. Das bedeutet jedes Mal eine erneute Herausforderung. Darum ist das, was ich mache Kunst und nicht nur Kochen. Es ist mit der Malerei vergleichbar. Beim Malen hantiert man mit Pigmenten und Ölen – ich hingegen arbeite mit Geschmäckern. Auch die Haptik, der Klang und die Konsistenz des Essens sind wichtig. All diese Faktoren beeinflussen später die Erfahrung des Geschmackes.

Im Moment arbeite ich an Miso-Rezepten aus Walderde und entwickle Hydrolate. Hydrolate sind Pflanzenwasser, die als Produkt bei einer Wasserdampfdestillation entstehen. Geschmacklich sind sie sehr interessant. In meinen Arbeiten suche ich immer nach gegensätzlichen Polen und versuche den Raum, der dazwischen liegt, auszuloten. Miso aus Erde bekommt durch die Fermentierung einen starken Eigengeschmack. Hydrolate dagegen sind sehr flüchtig. Diese Gegensätze in einem Mahl zusammenzubringen, ist eine Herausforderung.

Heimat und Geschmack
Ich mache künstlerische Forschung zum Thema Heimat, Identität und Nahrung. Für dieses Jahr habe ich zwei Themen gewählt «Paradise lost – das verlorene Paradis» und «Wie wir leben wollen, FUTUR». Die Ausstellung im Val Lumnezia ist die letzte grössere Ausstellung in diesem Jahr. Heimat ist meiner Meinung nach heute nicht einfach nur so gegeben, indem dass man irgendwo geboren wird, da lebt und stirbt. Es gibt viele Einflüsse, wie z.B. das Internet, Reisen oder die Globalisierung, welche den Heimatbegriff prägen. Heute sind viel mehr Menschen aus anderen Kulturen in der Schweiz. Das beeinflusst das Leben aller Menschen hier. Darum müssen wir «Heimat» auch immer wieder neu verhandeln. Ich versuche den Begriff auf eine ganz einfache Art und Weise zu transportieren. Darum koche ich. Nahrung ist das Unmittelbarste überhaupt, das wir zu uns nehmen können.

Ich habe z.B. herausgefunden, dass der Balkan in geschmacklicher und musikalischer Hinsicht auch eine Art Heimat für mich geworden ist. Über 20 Jahre habe ich als Sozialpädagogin vorwiegend mit Jugendlichen aus dem Balkan gearbeitet. So erfuhr ich viel über deren Kultur. Ein Teil dieser schwappte automatisch auf mich über. Ich setze mich intensiv mit Heimatgeschmäckern auseinander und merke plötzlich, dass ich gewisse Vorlieben hege. Warum kommt mir bei einem Rezept plötzlich Kreuzkümmel in den Sinn und nicht Wachholder? Ich habe mich geschmacklich immer weitergebildet und neue Geschmäcker in meinem Hirn abgespeichert. Diese füge ich fiktiv im Kopf zusammen bevor ich koche. Ich koche nämlich alles nur einmal.

Geschmackliche Unsicherheit
Manchmal kommt man durch Bildung von etwas weg, obwohl man denkt, dass es zu einem gehört. Bei Rösti und Spiegelei denkt man gleich an Heimat und Comfort Food, an ein Essen mit einem nostalgischen oder sentimentalen Erinnerungswert. Aber auch Tannenschösslinge, Pilze oder Erde könnten für uns Heimat bedeuten. Ich verkoche z.B. Vogelbeeren. Diese schmecken bitter und die Leute denken da nicht gleich an Heimat.

Früher liebte ich Rahmschnitzel und Butternudeln mit Aromat. Das zu essen gab mir ein wohliges Gefühl. Heute ist es anders. Ich will die Menschen auf eine unerwartete Art und Weise ergreifen und bei ihnen eine geschmackliche Unsicherheit hervorrufen. Viele denken bei Heimatküche an Komfort. Sie sind enttäuscht, wenn ich ihnen diesen nicht biete. Bei mir zu essen, ist wie einen Berg zu erklimmen. Man weiss nie, was man bei mir erwarten darf. Mein Essen ist eigenwillig und eigenständig. Es beinhaltet das bergige, kluftige und waldige – so wie ein Gemälde von Segantini oder Hodler. Ich biete meinen Gästen neue und unvergessliche Erfahrungen. Sie sollen sie gleich wieder machen wollen.

Ich bin gespannt wie die Menschen aus dem Val Lumnezia auf die Ausstellung FUTUR reagieren werden. Wenn man Künstler*innen von aussen holt, bekommt man eine Aussensicht. Dadurch können widerum neue Perspektiven für die Region entstehen. Es gibt Veränderungen. Dagegen kann man nichts machen. Man muss sich denen hingeben. Das ist im Zusammenhang mit Identität und Heimat so. Ich finde es legitim, wenn die Menschen berufsbedingt wegziehen, oder weggehen, weil sie die Enge nicht ertragen. Aber vielleicht wäre es auch interessant irgendwann zurückzugehen und das Know-how, das man sich angeeignet hat, anzuwenden.

Das Gespräch mit Sandra Knecht wurde am 19.06.2019 von Annatina Nay aufgezeichnet.

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Fotos von Sandra Knecht zur Verfügung gestellt, 2019.
© Text: Annatina Nay, annatinanay.ch